Warum “Berlin – Tag & Nacht” so erfolgreich ist

Berlin Tag & Nacht. Hinten v.li.: Ole, Carlos, Marcel. Mitte v.li.: Joe, Alina, Meike, Ceylan. Vorne: Sofi
Berlin Tag & Nacht. Hinten v.li.: Ole, Carlos, Marcel. Mitte v.li.: Joe, Alina, Meike, Ceylan. Vorne: Sofi© RTL II | RTL II

Eine Pseudo-Doku aus Berlin hat mehr als eine Million Facebookfans – obwohl dort fast nur Unsinn geredet wird. Die RTL-II-Produktion feiert seine 100. Folge und soll so lange weitergehen, “wie die Zuschauer die Sendung sehen wollen“.

Ole, der WG-Clown, hat es mal wieder geschafft. Er ist auf eine Party eingeladen worden, dazu noch von einer „suuper süßen Schnecke an der Kasse“, die er gerade erst im Supermarkt kennengelernt hat. Ole postet seinen Erfolg inklusive Foto von der Schnecke bei Facebook, auf der Fanpage der Serie „Berlin Tag & Nacht“, zu deren Helden er gehört. Innerhalb einer Stunde gefällt das 6000 Usern, mehr als 1200 Kommentare stehen darunter. Da heißt es unter anderem: „Ach Ole, wann lernst du es endlich…?“ oder „Mach dir die klar, aber bau nicht schon wieder so nen Scheiß ;-)“. Fast so, als würden hier Freunde kommentieren, Menschen, mit denen Ole oft zu tun hat. Dabei haben sie sich noch nie gesehen. Und genau das ist das Geheimnis hinter dem Erfolg der RTL II-Serie „Berlin Tag & Nacht“: die Nähe der Darsteller zu ihren Fans.

„Berlin Tag & Nacht“ ist ein sogenanntes „Realtainment“-Format, das Wort hat sich der Sender extra ausgedacht für diese Serie. Im Sendersitz in München benutzen sie es inzwischen so routiniert, als sei es schon vor Jahrzehnten in den Kanon der deutschen Fernsehsprache aufgenommen worden. „Realtainment“ soll suggerieren, dass alles, was da vor der Kamera passiert, irgendwie real sei, spontan, aus dem echten Leben eben. Irrtum. In Wahrheit ist es so: Authentische Situationen werden von authentischen Typen gespielt. Pseudo-Doku könnte man das auch nennen. Das alles ist bloß ein großer Fake.

Hundertste Sendung steht bevor

Worum es in „Berlin Tag & Nacht“ geht, ist schnell zusammengefasst. Sechs bis acht Männer und Frauen zwischen 19 und 38 wohnen in einem Loft in der Schlesischen Straße in Kreuzberg. Sie sind total crazy drauf, Party und so, gearbeitet wird kaum. Jeder ist irgendwie tätowiert, wichtig sind plumpe Sprüche und die Bereitschaft, sich vor der Kamera möglichst nackt zu zeigen. Die Typen sind ebenso verschieden wie banal. Da ist zum Beispiel Joe, der sächselnde WG-Papa, der alles zusammenzuhalten versucht, da ist Möchtegern-Maler Marcel („Hab mich jetzt so’n bisschen spezialisiert auf richtig Kunst“), da ist die Quotenpummelige Alina, die auf Frauen steht, da ist Sofi, die Hübsche mit Gesangstalent, die zielstrebig naiv auf die größten Playboys unter Gottes Sonne hereinfällt. Und da ist eben Ole, der WG-Clown, notorisch pleite, notorisch optimistisch, notorisch erfolglos bei Frauen. So weit, so schnarch.

Doch der Erfolg lässt sich nicht wegkritisieren, er ist schlicht und einfach da. Am Montag läuft die 100. Folge. Ursprünglich war die Serie nur auf 120 Folgen angelegt, auch als eine Art Test-Ballon dafür, ob das Format langfristig den Überwachungscontainer Big Brother ablösen kann. Kann es offenbar. Denn jetzt soll es weitergehen, und zwar „so lange, wie die Zuschauer die Sendung sehen wollen“, wie RTL II-Programmdirektor Holger Andersen sagt. In nicht einmal einem halben Jahr seit Start hat die Serie mehr Facebookfans gefunden als jedes andere deutsche Fernsehformat. 1.276.910 waren es am Sonntag. Der Platzhirsch unter den „Dailys“, RTL’s „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ (GZSZ), hat ein Drittel weniger. Und das, obwohl die Quote fast dreimal so hoch ist wie bei „Berlin Tag und Nacht“. Und, obwohl es GZSZ schon seit 20 Jahren gibt. Woher rührt das bloß?

Für Holger Andersen ist das ganz klar: „‚Berlin – Tag & Nacht’“ ist authentisch, weil jede Rolle von den echten Charaktereigenschaften und Interessen der Darsteller geprägt ist. Der Zuschauer kann sich mit den Figuren identifizieren und kommt nahe an sie heran.“ Zudem begründe sich der Erflog der Serie aber vor allem auf der engen Verzahnung mit Facebook. „Wir präsentieren nicht nur ein sendungsbegleitendes Profil wie man es von vielen TV-Sendungen kennt. Das Profil von ‚Berlin – Tag & Nacht’ ist ein Teil der Geschichte. Die Postings teasern Geschehnisse der nächsten Episode an oder thematisieren die jüngsten Ereignisse in der WG.“ Mittels exklusiver Fotos und persönlicher Videos sollen die Fans die Figuren noch besser kennenlernen. Alle Postings, Kommentare, Tipps sind aus Sicht der WG-Bewohner geschrieben. „So wird die fiktionale Welt in das soziale Netzwerk übertragen – die Fans können direkt mit den Figuren aus der Geschichte kommunizieren und bekommen von diesen Feedback.“ Das sei, so Andersen, eine bislang einzigartige Verknüpfung von TV und Online. Und das kommt eben bei der jungen Zielgruppe an. So einfach ist das.

Denn während sogar bei den Quotenrennern im deutschen Fernsehen, also Formaten wie „The Voice of Germany“ (Sat.1/Pro7) oder „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) auf Facebook gerade mal 80.000 respektive 20.000 User regelmäßig über das Geschehen diskutieren, sind es bei „Berlin Tag & Nacht“ rund 350.000. Die Videos zur Sendung werden täglich bis 857.000 mal abgerufen. Und auch im Fernsehen funktioniert die Serie. Bis zu 1,22 Millionen Zuschauer sehen durchschnittlich pro Woche zu, das beschert dem Sender werktags in der Zeit von 19 bis 20 Uhr derzeit einen durchschnittlichen Marktanteil von acht Prozent. Dieser war zuletzt im Juli 2010 so hoch.

Eine wichtige Rolle im Konzept spielt auch die Stadt Berlin als solche, die quasi als zusätzlicher Protagonist fungiert. Andersen sagt: „Wir lieben Berlin! Hier ist immer etwas los – egal ob in Sachen Mode, Politik oder Kultur. Berlin ist zurzeit die spannendste Metropole in Deutschland und wohl eine der aufregendsten in Europa. Das ist genau der richtige Ort für unsere aufgeschlossene WG.“

Das Berlin-Bild, das hier transportiert wird, sieht so aus: Party und Sex, dahinter lange: nichts. Die Serie scheint die Worte des Union-Vorsitzenden Philipp Mißfelder, vergangene Woche in der „Zeit“, zu bebildern: „Es gibt nicht viele Leute in Berlin, die außerhalb des politischen Betriebs wirklich arbeiten.“ Das ist bedauerlich. Und es ist außerdem falsch.