Bremen-Tatort „Stille Nacht“ im Ersten – Unter uns

„Schönstes Weihnachten ever“ (Selb): Luise Wolfram (l.), Miquel Francisco Bata. Foto: Claudia Konerding/Radio Bremen
„Schönstes Weihnachten ever“ (Selb): Luise Wolfram (l.), Miquel Francisco Bata. Foto: Claudia Konerding/Radio Bremen © Radio Bremen/Claudia Konerding

Der Tatort „Stille Nacht“, ein klassischer englischer Krimi zur deutschen Weihnacht.

Die Familien- und Weihnachtsverächterinnen Linda Selb und Liv Moormann verbringen den Heiligabend gutgelaunt im Dienst. Soeben spielen sie ein Spiel, bei dem man sich Erdnüsse gegenseitig in den Mund wirft und Begriffe nennt, die man mit Weihnachten verbindet und entsprechend hasst. Familie. Oder (haltloserweise) „Last Christmas“. Was, sie möge „Last Christmas“ nicht, hakt Selb ehrlich überrascht ein. Keiner möge „Last Christmas“, sagt Moormann.

Das sind frühe Fingerzeige: Selb wird sich im Verlauf der Handlung als die Hedonistin zeigen, die ihre Fans immer schon in ihr vermutet haben. „Last Christmas“ wird zu hören sein bis zum Leiserstellen des Fernsehers, allerdings gegrölt von privat. Und am Ende weggewischt von Nick Caves „Into My Arms“, auf dass das Publikum aufhöre, mit den Augen zu rollen über Karaoke und Weihnachten, und die Träne vergieße, die diese Geschichte von Unglück und Schuld verdient hat.

„Stille Nacht“, geschrieben von Daniela Baumgärtl und Kim Zimmermann, inszeniert von Sebastian Ko, ist der sechste und bisher gelungenste Bremer Tatort mit Luise Wolfram und Jasna Fritzi Bauer. Das Übermotivierte, das dieses allzeit bereite und hochbegabte Duo auszeichnet und zugleich beschwert, weicht für die Festtage einer Abgeklärtheit, die fast lebenszugewandt zu nennen wäre, ginge es nicht um Selb und Moormann.

Selbstverständlich ist der Tatort ein gemütliches Haus, in dem eben noch Weihnachten gefeiert wurde. Man sieht die Feiernden, sieht, dass es nicht gerade lustig ist, Weihnachten zu feiern, wenn es Wichtigeres zu besprechen gäbe, weiß aber noch nichts weiter. Die Feiernden haben einen asiatischen Gast, Andy. Auf die Frage, wie bei ihm zu Hause Weihnachten gefeiert werde, fällt ihm Karaoke ein und das lässt sich die Familie nicht zweimal sagen. Während alle „Last Christmas“ plärren, entfernt sich die Kamera, teils rücksichtsvoll, teils spannungssteigernd. Jetzt muss ja gleich etwas passieren.

Andy ist ein zur Feier des Abends in die Familie vermittelter Seemann von den Philippinen, erfährt man später. Da ist der Familienvater und alte Seebär bereits tot, erschossen liegt er im Keller. Ermittlerin Selb strahlt vor Glück, weil sie die neue 3D-Kamera ausprobieren kann. Die neue, coole Gerichtsmedizinerin stellt sich vor, ist die bekannte Ex-Rocksängerin Helen Schneider und macht aus dem coolen Duo ein cooles Trio. Man redet ausschließlich über die Arbeit und die nützliche 3D-Kamera. Wenn die Ermittlerinnen träumen, stellen sie sich vor, wie der Mord geschehen sein könnte.

Nachher feiert Selb eine Weihnachtsparty im Seemannsheim, spielt schlecht, aber glücklich Billard, tanzt, singt, trinkt und hat am nächsten Tag keinen Kater. Unfassbar. Auch recherchiert sie beim Feiern, so dass der Zeitverlust minimal ist. Die Handlung reicht von Heiligabend bis in den Zweiten Weihnachtstag hinein, an dem auch Selbs und Moormanns Kollegen allmählich wieder auftauchen. Genug Familie gehabt. Im Zuge einer Verfolgungsjagd kommt es zum klassischen Gerempel mit Gruppen von Weihnachtsmännern.

Wie im schönsten englischen Krimi ist bald klar, dass die Person, die geschossen hat, schon im Haus gewesen sein muss. Die Familie ist auch sehr interessant – Moormann, wenig feinfühlig: wer denn nun wer sei –, sie wirkt individuell und doch prototypisch. Man macht sich Vorwürfe, um sich eine Minute später schluchzend in den Armen zu liegen, Familie eben.

Der kriminalistischen Handlung fehlt die letzte Raffinesse zu etwas ganz Großem. Wäre man wie Sherlock Holmes deduktiver der naheliegenden und auch vielfach gestellten Frage nachgegangen, wie es möglich sein sollte, dass der Schuss überhört wurde, wäre der Tatort nach 30 Minuten um gewesen. So bleibt aber mehr Zeit, eine letztlich unendlich traurige, ja, tragische Geschichte allmählich auseinanderzufalten.